Unter der Lupe

Es sind seltsame Zeiten, die wir gerade erleben, obwohl sich das Leben auf dem Hof im Grunde nicht geändert hat. Die täglichen Abläufe und Tätigkeiten sind dieselben geblieben, die Arbeiten, die der Frühling jedes Jahr mit sich bringt, sind nach und nach dazugekommen. Die Wiesen sind inzwischen trotz der schon wieder trockenen Böden grün geworden und die Kühe sind auf der Weide. Wenn man aber die „Insel“ Hof mal verlässt, merkt man, wie stark sich die Welt verändert hat. Die Mischung lässt in mir den Eindruck eines schwankenden Bodens entstehen. Das Herunterfahren der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten hat nicht nur den angenehmen Effekt der Entschleunigung, sondern auch ganz massive Folgen für viele Menschen: Einsamkeit, große finanzielle Sorgen, wenn Einkommen ganz oder teilweise wegbricht, Miete und sonstige Ausgaben aber trotzdem anfallen; hohe psychische Belastung, wenn auf engem Raum Familienleben abläuft, Kinder im „Homeschooling“ ihre Schulaufgaben machen sollen und möglicherweise auch noch Arbeit in Homeoffice erledigt werden muss. Dabei wirkt diese ungewöhnliche Zeit wie eine Lupe: Gesellschaftliche Themen wie überhöhte oder unerschwingliche Mieten, zu niedriges Einkommen trotz Vollzeitarbeit, die Abhängigkeit der Bildungschancen von Kindern vom sozialen Hintergrund, die unzureichende Entlohnung in vielen Pflegeberufen, die dramatische Situation in vielen Flüchtlingslagern (um nur einige zu nennen) waren auch schon vor Corona präsent, aber jetzt stehen sie ganz scharf umrissen im Raum und wir können, wenn diese schwierige Zeit irgendwann vorbei ist, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, weil es ja irgendwelche finanziellen Unterstützungen gegeben hat, sondern werden Lösungen finden müssen, die dann viel mit Solidarität zu tun haben werden. Ja, momentan gibt es sehr viel Solidarität in unterschiedlichster Ausprägung unter den Menschen. Auch wir Bäuerinnen und Bauern haben sie gespürt, als sich ganz viele Leute gemeldet haben, um auf den Höfen zu helfen, weil Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa fehlen. Das könnte eine Chance sein, dass sich „Stadt und Land“ wieder besser verstehen lernen und die Menschen merken, wie viel Arbeit hinter der Erzeugung von Nahrungsmitteln steckt und dass diese deshalb mehr wert sind als die niedrigen Lebensmittelpreise vorgaukeln. Diese Situation macht aber wieder einmal deutlich, dass nicht nur Bauern und Bäuerinnen unter den niedrigen Preisen leiden, sondern ganz stark die Saisonarbeiter, die für harte Arbeit nur einen niedrigen Lohn erhalten und nicht selten zu schlechten Bedingungen untergebracht sind. Preis und Wert klaffen einfach zu weit auseinander und schaffen ungute Abhängigkeiten. Solidarität und Verantwortungsbewusstsein sind aber auch entlang von Produktionsketten notwendig, wie das Beispiel Milchmarkt zeigt. Durch die vorher schon bestehende Überproduktion und die Beschränkungen wegen Corona gibt es Verwerfungen auf dem Milchmarkt, die die Molkereien ganz unterschiedlich betreffen. Die Milcherzeuger und sogar manche Molkereien wären bereit, durch koordinierte Reduktionsmaßnahmen Verantwortung zu übernehmen, viele Vertreter der Molkereibranche rufen aber reflexhaft nach finanzieller Unterstützung für Lagerhaltung, was die Probleme nicht lösen, sondern nur verschieben wird. Scheinbar unumstößliche Wahrheiten – zumindest aus der Sicht mancher Wirtschaftsexperten – sind plötzlich ins Wanken geraten: Die globale Arbeitsteilung, wonach Güter zum Wohle aller am besten dort produziert werden, wo es am billigsten ist, und deshalb ganze Produktionen in ferne Länder ausgelagert werden, hat sich in dieser Situation als Bumerang erwiesen. Plötzlich sind Versorgungsketten abgerissen. Warnungen, dass genau dies bei einer weltumspannenden Krise passieren könnte, wurden bisher immer als unwahrscheinlich abgetan. Umso deutlicher zeigt sich dabei, wie robust dagegen regionale Strukturen sind, auch und vor allem, wenn es um Ernährungssicherheit geht. Auf jeden Fall lernen wir gerade, wie schnell sich Dinge in eine bisher unvorstellbare Richtung ändern können, wie unkonventionell und flexibel wir Probleme lösen und Schwierigkeiten meistern müssen und auch können. Wir sehen aber auch, dass es ohne so „altmodische“ Eigenschaften wie Gemeinsinn, Solidarität, Verantwortungsbewusstsein oder Rücksichtnahme nicht geht. Bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnis noch weite Kreise zieht und wir sie in den Nach-Corona-Zeiten nicht wieder vergessen und wieder nur die sogenannten harten wirtschaftlichen Fakten zählen. Ich denke, das können wir uns nicht mehr leisten.
05.05.2020
Von: Elisabeth Waizenegger, Milchbäuerin im AbL-Bundesvorstand

Elisabeth Waizenegger