Welthandelspolitik im Blick

Freihandel für die Industrie, wenn die Gesellschaft sie lässt

Seit langem hat es mal wieder eine Meldung über die Welthandelsorganisation (WTO) in die globalen Medien geschafft. Ein neuer Chef ist gewählt. Der Brasilianer Roberto Azevêdo löst den Briten Pascal Lamy ab. Das erste Mal, dass ein Vertreter eines Schwellen- und Entwicklungslandes diesen Posten besetzt. Azevêdo genießt einen nicht sonderlich guten Ruf bei Freihandelsbefürwortern, da Brasilien in der letzten Zeit eher durch Handelshemmnisse als durch Handelserleichterungen aufgefallen ist. Ansonsten ist es still geworden in der WTO. Die multilateralen Verhandlungen zur Ausgestaltung des Welthandels liegen brach. Nicht aber die Freihandelsbemühungen. Die laufen auf Hochtouren und nun eben bilateral. Rund 550 Einzelabkommen zwischen Ländern sind mittlerweile abgeschlossen. Streckenweise gehen Themen und Ausgestaltung weit über das hinaus, was bisher in der WTO beschlossen oder zuletzt verhandelt wurde. Die EU zählt insgesamt 37 abgeschlossene bilaterale Abkommen, darunter mit Ländern wie Haiti, Syrien, Marokko oder Mexiko. Mit insgesamt 89 Ländern steht die EU bereits in Handelsgesprächen oder hat angekündigt, diese führen zu wollen. Viele afrikanische Länder sind dabei. Weitere sechs Länder stehen auf der Liste für künftige Handelsgespräche. Transatlantische Gespräche Noch in den nächsten Wochen sollen die Verhandlungen zum Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) zwischen der EU und den USA starten. Der Handelsausschuss des EU-Parlaments hat kürzlich mit Mehrheit von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen grünes Licht für die Verhandlungen gegeben. Ein Mandat für die EU-Kommission soll planmäßig auf dem nächsten Treffen des EU-Handelsrates am 14. Juni in Brüssel ausgesprochen werden. Ein weiterer Termin für den symbolischen Auftakt bietet der anstehende Deutschlandbesuch von US-Präsident Barack Obama am 18. und 19. Juni. Auf der Verhandlungsliste stehen Zollabbau sowie Marktöffnung für Investitionen, Dienstleistungen und öffentliche Beschaffung. Des Weiteren geht es um die Angleichung regulatorischer Vereinbarungen von Vorschriften und technischen Produktnormen. Da die Zölle im transatlantischen Handel mit einigen Ausnahmen im Agrarbereich ohnehin schon fast gänzlich abgeschmolzen sind, ist der Verhandlungsschwerpunkt, die Standards abzugleichen. Standards werden als nichttarifäre Handelshemmnisse bezeichnet. Eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene brandneue Studie mit dem Titel „Transatlantische Barrieren für Handel und Investitionen reduzieren“ kommt zu dem Schluss, das am meisten der Agrarsektor, die Chemie- und Autoindustrie in der EU von solch einem Abkommen betroffen würden. Für die Studie sind Firmen abgefragt worden, wie hoch sie die nichttarifären und tarifären Handelshemmnisse einschätzen. Im Agrarsektor hat die Studie auf dieser Grundlage einen umgerechneten Zollschutz von 56,8 Prozent für Lebensmittelimporte aus den USA ermittelt. Die USA sollen ihren Markt vor Importen von EU-Lebensmitteln mit einem Zolläquivalent von 73,3 Prozent schützen. Beobachter warnen weiterhin, dass auch die Frackingindustrie am Start steht, um ihr billiges Gas in den transatlantischen Handel zu bringen. Standards für Industrie Zu den Auswirkungen dieses Abkommens auf die Landwirtschaft in der EU sagt Tobias Reichert, Handelsexperte bei Germanwatch: „Ein Knackpunkt wird die Gentechnikfrage sein. Da könnte die derzeitige Regelung der EU unter Druck geraten. Erlaubt die europäische Zulassungsbehörde EFSA ein Gentechnikprodukt in Europa, dann können Mitgliedsstaaten in der Praxis trotzdem dieses Gentechnikprodukt verbieten. Solch ein Moratorium könnte von den USA im Rahmen eines transatlantischen Freihandelsabkommens angefochten werden, und die Gentechnikbefürworter in der EU werden sie dabei unterstützen.“ Die Verhandlungen werden auf Hochtouren vorbereitet, indem die EU bereits Standards im Vorfeld aufweicht.  Auf Grundlage einer Unbedenklichkeitsstudie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erlaubt die EU-Kommission seit dem 4. Februar das Besprühen von Rindfleisch-Schlachtkörpern mit Milchsäure. In der EU durfte bislang Fleisch nur mit Trinkwasser gewaschen werden. Die Milchsäurebehandlung hatte hier bisher keine Bedeutung, in den USA ist sie gängige Praxis. Dadurch kann u.a. das Salmonellenrisiko verringert werden. Wenn das Fleisch durch das sogenannte Abhängen oder das Einschweißen in Vakuumbeutel reifen kann, dann entsteht auf natürliche Weise Milchsäure. Denn die lässt das Fleisch reifen und wirkt gleichzeitig bakterienhemmend. „Die natürliche Fleischreifung wird durch den technischen Prozess der Milchsäurebehandlung von Schlachtkörperhälften abgekürzt“, sagt Dr. Stefan Wendt, Amtstierarzt im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein. Die gegenwärtig praktizierten Wege der Fleischverarbeitung finden unter Zeitdruck statt und ermöglichen ein Abhängen gar nicht erst. Noch verboten in der EU, aber erlaubt in den USA ist die Chlorbehandlung von Hähnchenfleisch. Fazit Die Einschätzung von Details und Gefahren der Verhandlungen sind oft auf Vermutungen angewiesen, da die genauen Inhalte nicht an die politische oder zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit gegeben werden. „Das ist eine absolut undemokratische Geheimpraxis“, sagt Peter Fuchs von PowerShift, Verein für eine ökologisch-solidarische Energie- & Weltwirtschaft. „Selbst im EU-Parlament werden nur wenige ausgewählte Parlamentarier genau informiert und das oft nur unter strengen Schweigepflichten. Mit der Industrie wird dagegen offen abgestimmt, was die gerne möchte. Dadurch“, so Fuchs weiter, „erfahren wir von zentralen Entwicklungen oft zu spät. Jetzt gilt es Druck zu machen, um Detailinfos über das EU-Verhandlungsmandat zu erhalten und dann eine kritische Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Geheimverhandlungen für die 1 % dürfen sich die 99 % der Bürgerinnen und Bürger sowie Bäuerinnen und Bauern nicht bieten lassen.“ „Die AbL fordert umgehend ein Stopp aller bilateralen Freihandelsgespräche der EU“, sagt AbL-Bundesvorsitzende Maria Heubuch in einer jüngsten Pressemitteilung. „Die Interessen der Industrie sind offensichtlich neue Märkte in Drittländern und Zugang zu billigen Rohstoffen. Soziale und ökologische Standards bleiben dabei auf der Strecke. Eine zukunftsfähige Handelspolitik muss den Interessen der Gesellschaft und im Agrarbereich den Bäuerinnen und Bauern dienen.“
05.06.2013
Von: unabhängige Bauernstimme, Berit Thomsen